Reda El Arbi [empfindungsfæhig]

Reda El Arbi [empfindungsfæhig] - Leseprobe

 

[Prolog]

Genf, CERN 2062

 

Ein schmieriger Tropfen löste sich von der angerosteten Kühlwasserleitung und klatschte ihr lauwarm in den Haaransatz. Maria Walker, Korporal mit besonderen Aufgaben, wischte sich mit der freien Hand angeekelt über die Stirn, hielt kurz inne, blinzelte ins Halbdunkel und schlich dann weiter durch die stillen Eingeweide des verlassenen CERN-Forschungszentrums. Die schwere Desert Eagle in ihrer kleinen Hand reflektierte das flackernde Licht der veralteten chemischen Lichtkörper. Maria setzte ihre schwarzen Funktionsstiefel vorsichtig auf, entlockte dem feuchten Beton kaum mehr als ein leises Knirschen. Es roch leicht nach Schimmel und dem Diesel, der wohl das Notstromaggregat versorgte, um die Geräte in diesem Teil des Komplexes am Laufen zu halten. Sie fragte sich zum wiederholten Mal, ob es klug war, ohne offizielle Rückendeckung quer durchs Land zu fliegen, um hier Kriminelle aufzumischen. Die Vertreter der Kaya-KI waren zwar informiert, aber selbst diese mächtige Entität hatte hier in der Sonderenklave Schweiz keine Hoheitsrechte. Maria hasste Politik.

Ihr veraltetes Unterarmdisplay zeigte auf der animierten Karte noch zwölf Meter bis zum Serverraum, in dem die Zielpersonen Daten ins Netzwerk speisten. Eines dieser neuartigen Implantate könnte ihr die Informationen direkt ins Sichtfeld projizieren, aber sie traute diesem neumodischen Kram nicht. Dann dachte sie kurz an ihre Tochter, die nach dem Unfall gerade lernte, wie man mit Gedanken einen künstlichen Arm steuerte. Eine kurze Aufwallung von Stolz und Liebe durchflutete die Ermittlerin. Ganz übel war die Technologie dann wohl doch nicht, wenn sie ihrem Kind ein lebenswertes Dasein zurückgeben konnte. Maria schüttelte den Kopf, wischte die Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt.

Die Eindringlinge mussten sich seit Tagen häuslich eingerichtet haben, da die Manipulationen am Backbone des uralten Netzwerkes permanent und in Echtzeit stattfanden. Offenbar erweiterten sie die Bandbreite und installierten neue Tech, aber die über vierzig Jahre alte Infrastruktur hatte wohl ihre Tücken. Mit jedem Schritt nahm der Geruch von kaltem Zigarettenrauch und Urin zu. Er wies ihr den Weg exakter als ihre Karte. Diese Idioten versuchten tatsächlich, die erste und größte aller KIs anzugreifen, die Mutterinstanz aller Regierungs-KIs, um »die Menschheit vor der Unterdrückung durch die Maschinenintelligenz« zu retten. Was für Schwachköpfe. Obwohl, sollte sich ihr Verdacht als richtig erweisen, stellten es die Gates-Extremisten diesmal gar nicht so dumm an. Ausnahmsweise sprengten sie nichts in die Luft, versuchten nicht, waffenschwingend in einen zentralen Speicherkern in Mumbai einzudringen, nahmen keine Geiseln, um irgendwas zu erpressen. Diesmal nutzten sie eine Schwäche der Kaya-KI. Über das alte CERN-Netzwerk führte eine vergessene, direkte Verbindung mitten in die Hardware-Infrastruktur der ehemaligen Universität Mumbai, die noch immer einen kleinen Teil des Kerns der ersten und größten der SuperKIs ausmachte.

In ihrem täglichen Job kümmerte Maria sich eher um Bandenkriminalität und organisiertes Verbrechen. Cyberkriminalität gehörte nicht zu ihren Kernaufgaben, dafür hätte das Departement eigene Spezialisten. Maria grinste. Sie hatte die Aktivisten, die hier ihr Unwesen trieben, einfach als »kriminelle Vereinigung« eingestuft, und schon fielen sie in ihr Aufgabengebiet. Was jetzt dazu führte, dass sie knapp 250 Kilometer von ihrem Schreibtisch entfernt mit einer geladenen Waffe zwei Stockwerke unter der Erde herumschlich und auf eigene Faust Bösewichte jagte. Die Sicherheitsleute der Kaya-KI hatten ihr höflich zugehört, versprachen, eine Sandbox einzurichten, die die Daten der Hacker abfangen würde, und legten dann die Hände in den Schoß. Unterstützung bei der lokalen Regierungs-KI konnte sie erst anfordern, wenn sie einen Erfolg vorzuweisen hatte. Dafür musste sie jedoch mehr liefern als ein paar verdächtige Datenpakete in einem alten Netzwerk.

Einige Meter vor ihr flackerte der bläuliche Widerschein veralteter Monitore durch eine offene Tür. Sie bewegte sich lautlos an der Wand entlang bis zur Öffnung. Gedämpfte Wortfetzen und das Klicken von Tastaturen drangen aus dem Raum. Mit einem letzten Blick überprüfte sie ihre Waffe, atmete einmal tief durch und schwang die schwere Pistole durch die Tür.

Zwei junge Männer arbeiteten konzentriert an Keyboards, einer auf einem alten Drehstuhl, der andere stehend vor einem integrierten Monitor am wandfüllenden Serverrack. Der Boden war übersät mit leeren Energydrink-Dosen und Fast-Food-Verpackungen, der Raum stank nach Schweiß und Zigaretten. »Feierabend, meine Herren«, begrüßte sie die Cyber-Rebellen ruhig über den Lauf ihrer Waffe hinweg. Die zwei sahen erschrocken hoch, hoben langsam die Hände und entfernten sich rückwärts von ihren mit bunten Kabeln eingestöpselten Tastaturen. »Brav, Jungs, und bitte keine schnellen Bewegungen, meine Nerven sind heute einfach nicht die besten.« Sie machte zwei Schritte in den Raum und wollte gerade ihre Waffe wegstecken, um die Karbon-Handfesseln hervorzuholen, als der harte Schlag einer Flintenladung sie in den Rücken traf und bäuchlings in den Raum warf. Der Knall klingelte in ihren Ohren, und der Einschlag hatte ihr den Atem aus den Lungen getrieben. Der Großteil der Ladung steckte in ihrer Weste, aber sie spürte einige der gemeinen kleinen Schrotkugeln in ihrem rechten Oberarm und im Nacken. Sie fluchte, drehte sich auf den Rücken und feuerte blind zwei Schüsse durch die dunkle Türöffnung, dann zwei weitere durch die Wand neben der Tür. Ein dumpfer Aufschrei und das Scheppern von Metall auf Beton teilten ihr einen Treffer mit. Sie setzte sich auf und richtete die Waffe weiter auf die Tür. »Kommen da noch mehr?«, fragte sie über die Schulter. Die Nerds hinter ihr schüttelten verängstigt die Köpfe, was Maria jedoch nicht sehen konnte. »Hallo? Kommen da noch mehr?«

»Nein, wir sind … waren zu dritt«, stammelte schließlich der eine. Maria rutschte zur Wand und stützte sich ab, um wieder auf die Beine zu kommen. Alles drehte sich. Sie konnte die klebrige Nässe des Blutes an ihrer Seite spüren. Langsam verdrängte der Schmerz das Adrenalin. Sie griff sich mit der freien, inzwischen fast tauben Hand einen Combatstift aus einer Tasche ihrer Feldhose, entfernte mit den Zähnen die Verschlusskappe und setzte sich die Injektion aus Schmerzund Aufputschmitteln direkt in den Oberschenkel. Nach einigen Sekunden klärte sich ihr Blick, und der Schmerz schlich sich in den Hintergrund. Sie atmete durch, griff mit der Hand an ihrem unverletzten Arm die Waffe fester und sicherte den Raum. Die beiden Hacker schienen nahe an einer Panikattacke zu sein, stellten im Augenblick aber offensichtlich keine Gefahr dar. Ein Blick durch die Tür zeigte ihr den Angreifer auf dem Boden. Die Splitter aus der Betonwand hatten die Schusswirkung blutig verstärkt und seine Körpermitte aufgerissen. Es stank nach Blut und Kot. Neben der Flinte lag der Inhalt einer papierenen Take-away-Tasche verteilt, Sushi und Sashimi. Der Mann war groß und massig und offensichtlich für Schutz und Verpflegung zuständig. Jetzt nicht mehr. Shit, der Essensmüll im Raum hätte sie warnen müssen. Zu viele Kartons für zwei Personen. Sie trat durch die Tür, kickte die Schrotflinte außer Reichweite und sicherte den Korridor in beide Richtungen. Sie lauschte, aber da schien niemand mehr zu sein. In Gedanken dankte sie ihrer alten .50er Eagle mit Uranmunition, die ihr Mann nur »die verfluchte Kanone« nannte. Keine der üblichen Dienstwaffen schaltete durch zehn Zentimeter Beton einen Angreifer aus.

Sie kehrte zurück in den Serverraum und befahl Hacker eins, Hacker zwei die Fesseln anzulegen, band dann Hacker eins mit dem unverletzten Arm umständlich die Hände hinter dem Rücken zusammen und wies die beiden schließlich an, sich auf den Boden zu setzen. Langsam entspannte sie sich. Über ihr Com wählte sie die Verbindung zu den EuroGov-Vertretern und griff dann in ihre Seitentasche, um sich den zerdrückten Schokoriegel zu genehmigen, den sie sich ihrer Meinung nach redlich verdient hatte.

 

[ Alte Daten]

Montreal 2082

 

Cynthia presste die blaue Ledertasche mit dem Stick nervös in ihren Schoß. Sie war sich fast sicher, dass ihr niemand gefolgt war, aber sie sah sich trotzdem jedes Mal reflexartig um, wenn ein neuer Passagier die Maschine bestieg. Mit den selbst erstellten gefälschten Credentials würde sie sowohl für die Regierungs-KIs als auch für mögliche Verfolger unsichtbar sein, aber sie war dieses Versteckspiel nicht gewohnt. Sie war Wissenschaftlerin, Chefprogrammiererin mit weltweit exzellentem Ruf, keine Geheimagentin. Wenn sie nicht diese Codefragmente entdeckt hätte, würde sie jetzt gerade in einem Meeting mit ihren Nachwuchscoderinnen sitzen und über Systemanalyse oder redundante Fehlerbehebung bei hohen KIs dozieren. Stattdessen saß sie in diesem Orbitalgleiter, der sie von Montreal nach Hamburg bringen sollte.

Sie öffnete zum zehnten Mal die Tasche und versicherte sich, dass die kleine, grüne Speichereinheit noch da war. Als sie mitten in der Nacht erkannt hatte, welche Codefragmente sich da im Holodisplay auf ihrer Arbeitsstation drehten, hatte sie zuerst an einen Irrtum geglaubt. Die Zeilen unterschieden sich deutlich vom toxischen Code, den ihr Vater vor zwanzig Jahren hatte deaktivieren können, aber die Kernroutine war identisch. Es konnte nicht die Ursprungsvariante sein, dafür war der Code zu verdreht. Aber die Verwandtschaft war nicht zu leugnen. Dieser Code war tödlich. Niemand sollte Zugang zu dieser Art von Virus haben, ihr Vater hatte damals dafür gesorgt, und sie hatte, als seine Assistentin, alles am Rande mitverfolgt. Trotzdem war der Code da und fraß sich in die Programmierung ihrer Arbeitgeberin und Schutzbefohlenen NordKanGov-KI. Schon kurz nach der Infektion zeigte die mächtige Entität erste Anzeichen von irritierendem Verhalten, vier Stunden nach dem ersten Kontakt fiel sie in ein katatonisches Koma. Cynthia hatte die mächtige KI über das Notfallprotokoll rebootet und auf den Stand des Vortages zurückgesetzt. Erst dann gab sie Alarm und informierte die KI-Geschwister ihrer Arbeitgeberin.

Sie musste selbst herausfinden, wie ein Stück Code aus dem Angriff vor zwanzig Jahren den Weg aus der sicheren Isolation zurück ins Netz gefunden hatte.

Nur, irgendwer schien bereits Bescheid zu wissen. Als sie nach dem Reboot mitten in der Nacht endlich zu Hause ankam, war ihre Tür aufgebrochen und die Wohnung durchsucht. Ihr Vater hatte solche Situationen vorausgesehen und sich darauf vorbereitet. Cynthia hatte seine Paranoia immer für übertrieben gehalten, aber jetzt, Jahre später, zahlten sich seine Vorsichtsmaßnahmen aus.

Der Gleiter schloss endlich die Türen und rollte auf die Startbahn, seltener Regen in kleinen Sprühtropfen nässte das Fenster neben Cynthia. Sie legte die Gurte an und suchte sich eine kleine Wodka-Flasche aus dem Angebot vor ihrem Sitz, öffnete sie, setzte an und leerte sie in einem Zug. Besser. Sie musste unbedingt Marias Tochter finden. Und das, ohne jemanden zu ihr zu führen. Sie war die Einzige, die wissen konnte, wie der Code wieder den Weg in die Welt gefunden hatte.

 

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Reda El Arbi 

[empfindungsfæhig] 

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