Fest.

Mireille Zindel

Fest. - Leseprobe

I

 

Es ist kalt.

Der Wind bläst den Geruch von Jauche über das Feld.

Die Erde ist nass und schwarz.

Der Baum ist eine Tanne, ein Nadelgehölz, die genaue Bezeichnung weiß sie nicht. Mit Bäumen kennt sie sich nicht so aus, mit ihren Wurzeln schon. Dort vergräbt sie kleine Zettel mit dem immer gleichen Namen darauf. Hexe Muira (aus dem Moor) beteuert, das bringe ihn zu ihr. Noëlle achtet darauf, den Baum nicht zu verletzen. Mit einem Löffel gräbt sie ein Loch, Zentimeter um Zentimeter, setzt das Papier ein, schüttet das Erdhäufchen darauf, klopft die Erde an, legt die Hand auf den Baum, hört zu, was er ihr zu sagen hat, kehrt zurück ins Haus.

 

Es gibt einen Vorhang aus Flieder, eine Küche aus Holz. Ihr tut wieder einmal jeder Knochen weh, weil sie David vermisst. Die Tage lässt sie verstreichen, blickt vom Küchentisch aus auf die lila Blüten, in die blaue Luft, ist mit den Augen auf der Suche nach der Farbe Rosa, findet sie auf Dosenetiketten, in Form von Flecken an der gelben Wand, Fettflecken vermutlich (Mayonnaise?).

Das Fenster lässt sich nur kippen, wegen des neuen Sicherheitssystems. Es gibt eine Alarmanlage am Haus, eine rote Signalleuchte ist genau über dem Fenster angebracht. Wenn sie im Dunkeln in der Küche sitzt, fällt ein roter Lichtkegel auf den Boden, wie ein moderner Morgenstern, der den Weg ins Innere weist.

Sie packt einen Stapel Notizhefte aus, schwarze Hefte mit weißem Papier. Den obersten Einband beschreibt sie mit Land. Der Tisch wackelt. Das zweite Heft schiebt sie unter das zu kurze Bein. Ihr ist noch nicht ganz klar, was sie in diese Bücher schreiben wird: Eindrücke, Stimmungen, Gesehenes, Gehörtes … Der Verlag hat sich gemeldet. 100 Seiten!, hat sie gelogen. Das wird ein kleiner Wettlauf gegen die Zeit.

 

Das Haus steht außerhalb des Dorfes, auf abgelegenen Weiden, weiß und lang gezogen. Es gehört Bertrams Mutter, und Noëlle hegt eine tiefe Abneigung dagegen, wie gegen alles, das aus seiner Verwandtschaft kommt. Schon früh hat sie aufgehört, Bertram hierher auf Familienfeiern zu begleiten, doch als er vorgeschlagen hat, sie in den Jura zu fahren, hat sie nicht gezögert. Er hat sie chauffiert, als hätte es kein Ende zwischen ihnen gegeben.

 

Ein Schotterweg führt von der Hauptstraße hinauf. Das Haus hat zwei Stockwerke und zwanzig Zimmer, mächtig tritt es aus der Landschaft heraus. Auf der Vorderseite ein schmaler Streifen Garten, ein Zaun und ein verdorrter Baum, in den ein Blitz eingeschlagen hat. Hinten eine grau betonierte Veranda, die in ein Feld übergeht, auf dem in einem Gehege aus Stacheldraht ein Esel steht. Das Feld hebt auf der linken Seite an, wird zu einem baumlosen Hügel, bis es an ein Waldstück stößt, zu einer Welle großer und kleiner Tannen, zu denen es zu Fuß zwanzig Minuten braucht.

Kein anderes Haus in Sicht.

Wem der Esel gehört, weiß Noëlle nicht, sie hat keine Erinnerung an ihn. Es gibt eine Badewanne, die immer voll Wasser ist, selbst wenn es mehrere Tage hintereinander nicht geregnet hat. Sie hat nie gesehen, wer sie füllt. Das Tier ist alt und bewegt sich kaum. Stundenlang steht es da wie ein Baum. Manchmal hebt es ein Bein an, dann das andere.

 

»Sagst du immer die Wahrheit?«

Wenn es ganz schlimm ist, geht sie zu Muira. Sie ist stets schwarz gekleidet, wie Hexen das sind.

»Natürlich nicht, die Leute würden nie wiederkommen oder sofort davonlaufen. Die Wahrheit ist oft unangenehm, die Leute wollen sie nicht hören.«

»Schön, lüg mich an. Werde ich mit ihm zusammen sein?«

»Ihr seid schon zusammen! Und ich lüge nie, ich sage nur nicht alles.«

Einen Moment lang schauen sie sich schweigend an.

»Was soll ich tun?«

»Was willst du?«, fragt Muira in strengem Ton.

»Er soll zu mir kommen.«

»Dann nimmst du die.«

Sie geht die drei Stufen zur unteren Verkaufsebene hinunter, einem dunklen Raum mit Oberlichtern, und bleibt vor einem Regal voller Glaskerzen stehen. Eine Fixed Candle für jedes menschliche Bedürfnis: Domination, Transformation, Crown of Success, Pay me, Come to Me, Attraction … Pure Soul liest Noëlle auf dem Glas in Muiras Hand und zieht die Augenbrauen hoch, skeptisch, ob das passt.

»Das funktioniert! Er hat viel zu tun, der meldet sich schon wieder, der will dich! Du bist auch nicht immer nur nett … Du schreibst deinen Wunsch auf einen Zettel und klebst ihn unten an das Glas. Aber positiv formulieren! Danke, liebes Universum, lieber Gott oder was auch immer, dass ich den richtigen Mann für mich habe. So, als wäre es bereits Realität. Am nächsten Neumond, diesen Samstag um dreiundzwanzig nach elf, zündest du sie an. Nie löschen! Wenn du das Haus verlässt, stellst du sie in die Dusche. Sobald die Kerze runtergebrannt ist, gräbst du den Zettel am Fuß eines Baumes ein und vergisst deinen Wunsch, lässt ihn los, damit er umso besser zu dir zurückkehren kann.«

»Ich habe gerade einen Zettel vergraben.«

»Dann mach es noch mal.«

Der Zettel war übersät mit dem Namen David.